Die derzeit überall ausgerufene „neue Normalität“ hat wahrscheinlich schon jetzt beste Chancen, zum Wort des Jahres gewählt zu werden. Oder eben auch zum Unwort des Jahres – je nach Perspektive. Für unternehmerisches Denken ist sie schlicht die falsche Orientierung.

Erst einmal beschreibt eine neue Normalität dem Wort nach einen neuen statischen Zustand – und nichts ist weiter entfernt von der Realität heute und der in den nächsten 12, 24 oder 36 Monaten als Statik. So massiv sich Umfeldfaktoren in den vergangenen Monaten geändert haben – so massiv werden Veränderungen auch in den kommenden Monaten und Jahren sein. Dies betrifft natürlich die direkte Entwicklung der Pandemie, die entweder mit wieder erweiterten Einschränkungen einhergehen kann – oder eben auch nicht. Gleichzeitig ist dies auch zeitlich kaum einzuschätzen: Sommer? Eher Herbst oder Winter? Und dies betrifft ebenso die derzeit noch nicht abzuschätzenden volkswirtschaftlichen Szenarien, die gerne als V (schnelle Erholung), U (langsamere Erholung) oder gar als L (langfristige Krise) beschrieben werden. Eines steht dabei fest: Es gibt keine neue Normalität als Zustand, sondern die Realität wird sich wohl auch in den kommenden Jahren stetig verändern – und das extremer als im vergangenen Jahrzehnt. Das ist für unternehmerische Szenarioanalyse und Entscheidungsfindung eine außergewöhnliche Herausforderung.

Die „neue Normalität“ ist auch aus einem zweiten Gesichtspunkt alles andere als sinnvolle Richtschnur für Entscheidungsträger: Sie impliziert etwas, woran man sich gewöhnen müsse, und wird auch oft so beschrieben. Gewöhnung liegt aber nun so gar nicht im unternehmerischen Gen. Die Leidenschaft aller unternehmerischen Tätigkeit liegt vielmehr im Gestalten des eigenen Unternehmens und des Marktes. Unternehmer, Geschäftsführer und Führungskräfte wollen gerade Realität verändern, auf sie einwirken und in ihrem Sinne gestalten. Aber sich nicht an sie gewöhnen. Und genau das macht in den kommenden Wochen und Monaten mehr Sinn denn je.

Ein entscheidender Faktor in dieser dritten Phase der Krise sind jetzt der Blick nach vorn, das aktive strategische Denken und dann das gezielte Handeln. Im März, in der ersten Phase, sprang vielerorts naturgemäß der Überlebensinstinkt an: Liquidität wurde gesichert, Home-Office eingerichtet, gegebenenfalls Kurzarbeit eingeführt, Lieferketten überprüft etc. Dann lag der Fokus in der zweiten Phase darauf, auf dieser Basis möglichst mit ähnlicher Produktivität und Effizienz wie vorher weiterzuarbeiten. Die dritte Phase dient nun einerseits der Absicherung gegen mögliche mittelfristige Risiken. Dies geschieht in der Regel ganz automatisch. Es liegt in unserer evolutionären Natur, Gefahren immer sehr stark wahrzunehmen. Insofern dürften die meisten Unternehmensleitungen dies fest im Blick haben.

Das Wahrnehmen, Erarbeiten und Nutzen der möglichen Chancen in den kommenden 2-3 Jahren als zweiter wesentlicher Bestandteil bedarf hingegen starker, bewusst gesetzter Impulse innerhalb des eigenen Unternehmens. Vor allem wenn man sich in der Gestaltung des eigenen Geschäftsmodells über die naheliegenden Fragen hinausbewegen will, welche Möglichkeiten sich durch mehr Home-Office, stärkere Nutzung digitaler Techniken, möglicherweise nachlassende Reisetätigkeit oder ähnliches bieten.

Chancenfeld erarbeiten: Richtungen des Denkens und Handelns

In welche Richtungen können solche Denk- und Handlungsimpulse gehen? Eher „normal“ und sicher auch sinnvoll erscheinen eine Überprüfung und Anpassung der eigenen Strategie in einem offen aufgesetzten Strategieprozess anhand der wahrscheinlichsten 2-3 Szenarien der kommenden 1-3 Jahre – von leichten Veränderungen des eigenen Marktes bis hin zu massiven gesamtwirtschaftlichen Umbrüchen. Hier stellen sich Fragen wie: Welche direkten und indirekten Entwicklungen sind in unseren relevanten Märkten in den kommenden 12-36 Monaten zu erwarten? Welche Konkurrenten werden sich voraussichtlich stark, welche schwach entwickeln? Welche potenziellen Kundensegmente sind deshalb besonders anzusprechen? Wie können wir die zu erwartende erhöhte Wechselbereitschaft von Talenten und High-Performern nutzen? Bei genauerem Hinsehen und Denken werden sich durch diese Umwälzungen in den kommenden Monaten in all diesen Bereichen Chancen ergeben, die so groß wie einmalig sein werden. Ebenso wichtig wird sein: Wie binden wir unsere exzellenten Leute gerade jetzt? Denn eines ist gewiss: Auch für den Einzelnen wird nach dem ersten Sicherheitsimpuls in der aktuellen Situation anschließend die Frage auftauchen: Und wie geht es für mich persönlich weiter? Krisen befeuern nicht nur unternehmerische, sondern eben auch individuelle Entwicklungssprünge. Hier gilt es, mit einer strukturierten Vorgehensweise und einem klar definierten Prozess aus Risiken Chancen zu machen.

Eine zweite Denkrichtung basiert genau auf diesen Entwicklungssprüngen – unternehmerisch, persönlich und auch gesellschaftlich. Dabei macht ein holistischer Denkansatz Sinn, in dem eher die Frage „Wie wollen wir zukünftig leben und arbeiten?“ im Vordergrund steht. In eine ähnliche Richtung weisen Fragen wie: Wie wollen wir mit unserer unternehmerischen Tätigkeit die Gesellschaft mitprägen? An welchem Menschenbild wollen wir uns intern wie extern orientieren? Diese Fragestellungen knüpfen direkt an den Megatrend der letzten Jahre an: Sinn, Purpose – oder wie immer man es nennt – auch im Unternehmen zu verankern und damit vor allem, aber nicht nur Young Professionals zu gewinnen und zu binden. Der holistische Ansatz bietet darüber hinaus auch eine starke Basis für integrative Maßnahmen, um eine produktivere Zusammenarbeit und Kommunikation unterschiedlicher Generationen in Unternehmen zu ermöglichen. Auch gesellschaftliche Fragestellungen, wie die Verknüpfung von Nachhaltigkeit, persönlicher Entfaltung und ökonomischem Nutzen gestaltet werden kann, werden weiter an Bedeutung gewinnen. Wird sich der starke Trend zu Nachhaltigkeit und Umweltschutz verstärken – oder gerade eine aufziehende Wirtschaftskrise die Sicherung des Wohlstandes wieder in den Vordergrund rücken? Wie verbinden wir in unserem Unternehmen das alles sinnvoll? Wenn Unternehmen nicht innerhalb des eigenen Kontextes Raum für diese Fragen schaffen, werden gerade die Leistungsträger außerhalb nach Antworten suchen. Im Vergleich zu rein strategischen Fragen sollte dieser Prozess in einem größeren Kreis als nur innerhalb der gewohnten Geschäftsleitungsrunde umgesetzt werden. Grundsätzlich eignet sich dieser Weg nur für Unternehmen, in denen sich entweder Teile der Unternehmensführung diese Fragen bereits selbst stellen – oder zumindest die Notwendigkeit erkannt haben, dass diese Fragen diskutiert werden müssen. Am besten beides. Als Aktion „Feigenblatt“ überwiegen nach meiner Erfahrung die negativen die positiven Wirkungen.

Ein dritter Ansatz kann mit „Stolz und Freude“ zusammengefasst werden und betrifft das Unternehmen als Ganzes. Stolz darauf, diese Ausnahmesituation mit einer besonderen Kraftanstrengung aller Mitarbeiter des Unternehmens bewältigt und flexibel alle notwendigen Veränderungen gemeinsam gelebt zu haben. Und Freude, dass eine vielleicht drohende Unternehmens- oder gar gesellschaftliche Krise nicht eingetreten ist und die Welt wieder freier wird. Beide Faktoren haben einen ganz besonderen Zusammenhalt in den meisten Unternehmen erzeugt, der wohl mit sämtlichen Projekten zur Unternehmenskultur nicht hätte herbeigeführt werden können. Anstatt diesen besonderen emotionalen Zusammenhalt versanden zu lassen und in sechs Monaten wieder Business as usual zu machen – mit all den zum großen Teil unnötigen Fallstricken und Problemen, die Zusammenarbeit in jedem Unternehmen erschweren – gilt es, ihn zu nutzen, auszubauen und in eine Form zu gießen, die eben diesen einen Moment jetzt überdauert. Für nachhaltiges exzellentes Zusammenarbeiten und eine klare gemeinsame Ausrichtung nach vorn. Ein solcher Ansatz verlangt einerseits einen starken Impuls aus der Führungsmannschaft heraus und andererseits dann systematische Maßnahmen, die ihn für jeden Mitarbeiter spürbar und erlebbar machen.

Chancen der Ausnahmesituation

Sowohl der zweite als auch der dritte Ansatz bieten reichlich Möglichkeiten, mit einem neuen Zukunftsbild oder einer ergänzenden Charta 2025 eine unternehmenskulturelle Basis zu schaffen, auf der dann auch der erste Ansatz eines Strategieprozesses aufgesetzt werden kann. Die besondere Chance dieser Ausnahmesituation liegt damit in einer ganz natürlichen, selbstverständlichen Verbesserung des Unternehmens und seiner Kultur – was die Erfolgschancen gegenüber manchmal etwas künstlich aufgesetzt wirkenden Prozessen wie „Wir suchen jetzt mal nach dem Sinn“ deutlich erhöht.

Fazit: Ganz im Gegenteil zur viel beschriebenen neuen Normalität, an die man sich jetzt gewöhnen müsse, sollte der Fokus für Unternehmer und Führungskräfte darauf liegen, die aktuelle und wohl auch zukünftige Ausnahmesituation konsequent für das eigene Unternehmen zu nutzen. Je stabiler das Geschäftsmodell derzeit trägt – desto größer werden die sich bietenden Chancen sein. Nur sind nicht all diese Chancen naheliegend und auf den ersten Blick zu erkennen. Dies bedarf vielmehr einer Skizzierung der wahrscheinlichsten Szenarien in den kommenden 1-3 Jahren, eines daraus abgeleiteten, bewusst gesteuerten strategischen und/oder kulturellen Prozesses und schließlich eines nachgelagerten Maßnahmenpakets, das weite Teile des Unternehmens einbezieht. Dann kann – wie bei Krisen ja durchaus nicht ungewöhnlich – die aktuelle Situation zu einer ganz besonderen Chance für Ihr Unternehmen werden. Aus Berater- und Coach-Sicht wird dabei vor allem im Gespräch mit Unternehmern spannend sein, welche Denk- und Handlungsansätze im Vordergrund stehen werden. Mit Denkhorizonte stellen wir für alle drei Ansätze gerne unser Konzept- und Umsetzungs-Know-how zur Verfügung. Über Feedback und Diskussionsanregungen freue ich mich deshalb sehr.