Eine zentrale Aufgabe von Führung ist die Bewertung der Leistungen von Mitarbeitern. Unabhängig davon, ob ein Geschäftsführer seine Abteilungsleiter und damit indirekt das gesamte Unternehmen führt oder der Leiter eines kleinen Teams drei Personen. Und wenn Sie die Mitarbeiter, die Sie führen, einmal im Geiste Revue passieren lassen, werden Sie sicher eine recht konkrete Vorstellung davon haben, wer bei Ihnen die leistungsfähigen Performer, der Einfachheit halber die „Guten“ genannt, sind – und wen Sie eher zu den „Schwachen“ zählen. Und genau hier landen Sie mitten im zentralen Problem einer Einschätzung, die grobe Fehler gerade zu provoziert.
15 Jahre ist es her, dass Daniel Kahneman den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Verhaltensökonomie erhielt und den Homo Oeconmicus, der eine Grundlage jedes wirtschaftsorientierten Studiums bildet, in zahlreichen Feldern beerdigt hat. Dem Leitbild des rational handelnden Menschen weist Kahneman in zahlreichen Studien und Tests deutliche Fehleinschätzungen nach und macht deutlich, dass – vereinfacht gesagt – bei der Mehrzahl unserer täglichen Einschätzungen, Entscheidungen oder Reaktionen unsere intuitive Einschätzung eine rationale Betrachtungsweise schlägt.
Zentrale Begriffe sind dabei die kognitive Leichtigkeit und die kognitive Verzerrung. Vereinfacht beschrieben bedeutet kognitive Leichtigkeit, dass unser mentales System alles, was uns vertraut erscheint oder nahe liegt, deutlich bevorzugt und unsere Wahrnehmung stark bestimmt. Ein schönes Beispiel dafür ist eine Zeichnung, die je nach Sichtweise sowohl als Hase oder als Ente interpretiert werden kann. Tests haben ergeben, dass in der Weihnachtszeit die Mehrheit der Betrachter zuerst die Ente erkennt, während in der Osterzeit der Hase häufiger zuerst wahrgenommen wird. Wir sehen, was gerade nahe liegt. Bei kognitiven Verzerrungen reden wir von systematischen fehlerhaften Neigungen in unserer Wahrnehmung und Bewertung – zum Beispiel indem wir Informationen, die unseren Erwartungen entsprechen, zu stark wahrnehmen und solche, die eben nicht in unser Bild passen, ausblenden oder zumindest deutlich schwächer gewichten.
Womit wir bei den Direct Reports oder Mitarbeitern im guten und denen im schlechten Töpfchen wären. Ist ein Mitarbeiter einmal in der Schublade mit den Etiketten „zu wenig Leistung“ oder „unfähig“ gelandet, ist die Gefahr hoch, sich zukünftig vor allem auf die Aspekte zu fokussieren, die diese, also unsere eigene Einschätzung bestätigen. Gute Leistungen hingegen, solange sie nicht überragend oder sonnenklar sind, werden dann gern ausgeblendet. Dies gilt ebenso für Zuschreibungen wie „nicht organisiert“, „langsam“ oder auch „kann seine Leute nicht führen“ etc. pp. Solch persönliche Zuschreibungen bergen zusätzlich die Problematik, dass wir einzelne Ereignisse (kommt einmal in der Woche zu spät) verallgemeinern und überdramatisieren (kommt immer zu spät). Der durch diese Verallgemeinerung (selbst) vergrößerte Ärger lässt die Ratio weiter schwinden und befeuert unsere kognitive Verzerrung.
Munition gegen kognitive Verzerrungen
Um die eigenen Schubladen zu öffnen, kann ein Vorgedanke sehr hilfreich sein: In der Regel gehen wir davon aus, dass eine bestimmte Situation oder das Verhalten eines Gegenübers direkt eine Reaktion bei uns auslöst. „Das“ hat mich gefreut oder „er“ hat mich verärgert sind gängige Formulierungen, die diese Denkweise gut beschreiben. Zwischen Situation bzw. Verhalten und unserer Reaktion ist jedoch immer ein – oft unbewusster – Interpretationsschritt eingebaut. So wie der Anblick eines Filets einem Steakliebhaber ein Lächeln auf das Gesicht zaubert, so wird er bei einem Vegetarier vielleicht eher ein leichtes Ekelgefühl auslösen. Das Filet ist daran höchst unschuldig – erst unsere Interpretation und Bewertung sorgen für unsere Reaktion. Dieser Bewertungsschritt ist praktisch immer dabei, wenn wir auf Situationen oder Menschen reagieren! So wird ein Bewerber beispielsweise mit seiner Art zu argumentieren bei dem einen Personaler auf große Zustimmung stoßen – bei einem anderen jedoch keine Chance haben. Für den Bewerber gilt dabei dasselbe Urteil wie beim Filet: Nicht schuldig. Die eigene Bewertung entscheidet.
In der täglichen Bewertungspraxis versuchen wir natürlich, uns weitgehend an Fakten zu orientieren – und stellen vielleicht bei der Entscheidung über den Bewerber auf Fakten des Lebenslaufes ab. Nur sorgen eben kognitive Leichtigkeit und Verzerrung viel häufiger als uns lieb ist und wir es bemerken dafür, dass wir die Fakten eben nach unserem Gefühl, unserer Intuition und den Erwartungen auswählen und gewichten – und uns in diesem Beispiel auf die negativen Aspekte oder aber eben die positiven Aspekte des Lebenslaufes stärker fokussieren. Je nach unserer gefühlten Vorprägung über den Kandidaten.
„Kognitive Leichtigkeit“ hört sich in diesem Zusammenhang übrigens schön harmlos an – steht aber im Alltag gerne für betonharte Meinungen und felsenfeste Erwartungen und Überzeugungen, die aber eben nur einen Teil der Realität darstellen. Dies grundsätzlich zu berücksichtigen, macht uns deutlich skeptischer gegenüber unserer (unbewussten oder bewussten) Sortierung nach Schubladen, offener für gegenteilige Fakten und damit schließlich besser in den Einschätzungen der Menschen, die es zu führen gilt.
Konkret hilft es, sich im ersten Schritt ehrlich klar zu machen, wer in welcher Schublade steckt. Speziell für diejenigen, die tendenziell ein schlechtes Zeugnis erhalten, lohnt sich ein zweiter bewusster Blick, möglichst sogar eine konkrete Liste der Stärken oder mit kleineren Erfolgen der vergangenen Monate. Die Suche also nach den Belegen für das Gegenteil der eigenen These. Auch in Gesprächen mit Kollegen über solche Mitarbeiter kann es helfen, sich eben nicht bestätigen zu lassen (was sich emotional wunderbar anfühlt), sondern auch hier bewusst nach einer gegenteiligen Einschätzung oder Beispielen zu fragen.
Offenheit im Gespräch
Vor direkten Gesprächen, vor allem unter vier Augen, kann eine vorhergehende kurze Pause sehr wirksam sein, indem man sich zumindest um eine neutrale Haltung und Einstellung bemüht oder sogar bewusst vornimmt, nach positiven Aspekten zu suchen, und damit anschließend das Gespräch führt. Dazu gehört eine ordentliche Portion Ernsthaftigkeit und eine wirkliche Veränderung der eigenen Einstellung. Dies schafft Offenheit und die Chance auf eine weniger fehlerhafte Bewertung – auch wenn diese am Ende natürlich immer noch negativ ausfallen kann.
Zusätzlich zur eigenen Offenheit geben wir dem Gegenüber eine bessere Chance sich zu beweisen. Menschen spüren die Haltung ihres Gegenübers. In einem neutralen oder positiven Gesprächsklima hat jeder eine bessere Chance zu performen. Die meisten Mitarbeiter sind empathisch und schlau genug, um zu spüren, in welcher Schublade sie bei ihrem Vorgesetzten stecken – was der Motivation im negativen Falle oft nicht förderlich ist, Unsicherheit erzeugen kann und damit die Leistung weiter reduziert. Das Erkennen der eigenen Schubladen und das Verändern der eigenen Erwartungen können diese Spirale in die andere, vielleicht positivere Richtung drehen. Einen ernsthaften Versuch ist es meiner Erfahrung nach oft wert – und kann so manches Mal die hohen direkten und indirekten Kosten einer Neubesetzung ersparen.
PS: Die Suche nach Gegenthesen kann natürlich ebenso nützlich sein bei dem eigenen Vorgesetzten, einem Aufsichtsgremium, Geschäftspartnern, Kunden, Lieferanten – und auch bei denjenigen, die in besonders gutem Licht zu erstrahlen scheinen.